Tagungsblog „Design und Grenzen“ | Tag 2: Vorträge

Text: Florian Alexander Schmidt  Fotos: Peggy Stein & Herbert Popp

Publikum AGD Jahrestagung 2016 in Berlin

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Tagungsauftakt: Im Krieg und in der Liebe …

Zur Eröffnung der eigentlichen Tagung am 3. Juni hisst Vorstandsmitglied Torsten Meyer-Bogya erst mal eine Piratenflagge. Wie er erst kürzlich habe lernen müssen, sei nicht nur im Krieg und in der Liebe, sondern auch auf Mitgliederversammlungen alles erlaubt. Zusammen mit Vorstandskollege Jan-Peter Wahlmann führt er als Moderator durch den Tag. Doch erst mal umreißt Victoria Ringleb das weitläufige Thema und erklärt, dass es diesmal nicht um die finanziellen Grenzen der Designer bei ihrer Berufsausübung geht, sondern um die größeren gesellschaftlichen Fragen angesichts der vielen nach Deutschland geflüchteten Menschen. Sie sind der Anlass, sich neu mit der Bedeutung von Grenzen im Design auseinander zu setzen, und über diese sowohl anhand sehr konkreter gestalterischer Projekte als auch auf einer höheren Abstraktionsebene nachzudenken.

Anna Berkenbusch

Anna Berkenbusch: Grenzüberschreitungen

Die Keynote hält Anna Berkenbusch, Design-Professorin von der Burg Giebichenstein in Halle und seit 1989 in der Lehre tätig. Mit einem ähnlichen Vortrag über Grenzverletzungen im Design habe sie schon mal das Publikum geschockt. Die Zartbesaiteten Tagungsgäste sollten daher doch lieber noch einen Kaffee trinken gehen. Und tatsächlich erweist sich die Warnung nicht bloß als rhetorischer Kniff. Während vor dem Fenster bei strahlendem Sonnenschein Ausflugsdampfer die Spree hinabschippern, sehen sich die versammelten AGD-Designerinnen im großen Saal der Spreewerkstätten mit einer Kaskade von verstörenden Bildern an der Grenze des guten Geschmacks konfrontiert. Alles Beispiele die zeigen, wie Kollegen der letzten Jahrzehnte Schockbilder in den Dienst des Kommunikationsdesigns gestellt haben. Und längst nicht immer rechtfertigt der Zweck die Mittel. So zeigt Berkenbusch zwei visuell fast identische Plakatkampagnen mit Portraits scheinbar misshandelter Frauen. Im ersten Fall nutzte die Frauenrechtsorganisation Woman’s Aid die Bilder, um den dargestellten Missstand anzuprangern. Im zweiten Fall dienten sie lediglich dazu, unter dem Claim „the abuse must stop” angeblich hautschonendere Nassrasierer zu verkaufen. Am stärksten erfahren wir Grenzen, wenn wir Schmerzen spüren, so Berkenbusch. Und dass diese sich auch visuell auf den Betrachter übertragen lassen, wissen Designer und Künstler seit langem für ihre Zwecke zu nutzen. Nicht ohne dabei immer wieder ins Geschmacklose abzurutschen. Die Existenz von klaren Grenzen, gesellschaftlichen, persönlichen und ästhetischen, ist notwendig, so Berkenbusch. Absolute Freiheit ist beängstigend für das Individuum und oft viel schwerer zu handhaben als Regulierung. Außerdem bedingen sich die beiden Pole, die Freiheit des einen ist die Grenze des anderen, wie Anna Berkenbusch am Beispiel des Laufstall illustriert, der das Kind einsperrt und dafür der Mutter Handlungsfreiheit gibt. Doch ebenso wichtig sei das ständige Ausloten, Infragestellen und Brechen gesetzter Grenzen, gerade in Kunst und Design. Wer tiefer in Anna Berkenbuschs Überlegungen einsteigen möchte, der sei hier auf ihren neuesten Essay zum Thema verwiesen.

Publikum AGD Jahrestagung 2016 in Berlin

Raphael Reimann

Raphael Reimann: Roads to Rome

Der nächste Vortragende, Raphael Reimann aus Stuttgart, ist in einer beneidenswerten Situation. Er betreibt mit einem kleinen, interdisziplinären Team ergebnisoffene Designforschung zur Zukunft der Mobilität. Dabei ist Reimann eigentlich kein Gestalter, sondern Geograph. Möglich ist diese spannende Kombination im Moovel-Lab, einem Ideengenerator der zur Daimler AG gehörenden Mobilitäts-App Moovel. Unter anderem mit den Methoden des Speculative Design erkunden Reimann und seine Kollegen neue Wege, die außerhalb der direkten Produktentwicklung des Konzerns liegen. Was hier entsteht muss nicht profitabel sein, sondern soll in erster Linie neue Denkansätze und Perspektiven schaffen. Die Idee zu dem Projekt, das er bei der Tagung vorstellt, entstand beim Mittagstisch: Führen wirklich alle Wege nach Rom? Diese, so Reimann augenzwinkernd, wohl bislang größte ungeklärte Frage der Mobilität kann dank des Projekts „Roads to Rome” nun positiv beantwortet werden. Auf Basis von OpenStreetMap-Daten wurde von tausenden Punkten in Europa die jeweils direkte Route zum Milliarium Aureum, den goldenen Nabel des römischen Reichs errechnet. Herausgekommen sind wunderschöne, organisch anmutende Infografiken (agenda design berichtete in Ausgabe #2). Unter den Kommentatoren aus dem Publikum ist auch AGD Vorstandsmitglied Peggy Stein, die sich euphorisch über die sichtbar gewordene Schönheit der schnöden Zahlen und die nervensystemartige Ästhetik des Straßennetzes äußert. Diese Welt bleibe einem als Autofahrer im Stau leider sonst verschlossen. Reimanns Arbeit zeigt, dass uns die Kombination aus Datenanalyse und Kommunikationsdesign, Altvertrautes und scheinbar Banales mit anderen Augen sehen lassen kann und, wie in diesem Fall, die Selbstähnlichkeit und Schönheit von gewachsenen Makro-Strukturen erfahrbar macht.

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Daniel Kerber: More Than Shelters

Auch im nächsten Vortrag geht es um emergente Strukturen und das Wechselspiel zwischen planerischer Draufsicht und dem persönlichen Erlebnis des Individuen vor Ort, allerdings in einem sehr viel ernsteren und angewandteren Kontext. 2012 hat Daniel Kerber das in Hamburg ansässige Projekt More Than Shelters gegründet, das sich der Entwicklung modularer, menschenwürdiger Unterkünfte für Geflüchtete verschrieben hat. Das Produkt, eine temporäre Behausung in Iglu-Form, heißt DOMO. Es handelt sich um ein Aluminiumgerüst, das sich je nach den spezifischen Anforderungen vor Ort mit unterschiedlichen Materialien bespannen und flexibel erweitern lässt. Je nach Nutzung bietet das System Raum für Privatsphäre oder Gemeinschaftlichkeit. Ähnlich dem Cradle-to-Cradle Prinzip lassen sich Verschleißteile von der wiederverwendbaren Trägerstruktur trennen. Doch wie schon der Name des Projekts deutlich macht, geht es Daniel Kerber um sehr viel mehr als gutes Produktdesign für Notunterkünfte, weshalb er auch dem augenscheinlich ähnlichen Projekt Better Shelter von IKEA kritisch gegenübersteht. Die Lage in Flüchtlingscamps weltweit sei klimatisch und kulturell so unterschiedlich, dass eine „one-size-fits-all” Lösung in Kerbers Augen der falsche Ansatz ist. Noch wichtiger als die Modularität seines Produkts ist ihm jedoch die Einbindung der betroffenen Menschen vor Ort. Das dingliche Produktdesign wird einbettet in die Sphären des Social Designs und des Ökosystem-Designs, bei dem es um die Förderung stabilere Beziehungsgeflechte geht. Und Kerber weiß, wovon er spricht. More Than Shelters war bzw. ist in Griechenland, Nepal und Jordanien aktiv. Inzwischen ist auch der „Einsatz im Inneren”, in Hamburg und Berlin dazugekommen. Dass auch in Deutschland Flüchtlingsunterkünfte gebraucht würden, hätte sich Kerber bei der Gründung des Projekts nicht träumen lassen. Er erklärt weiter: Es sind heute deutlich mehr Menschen auf der Flucht als noch vor einigen Jahren, die Flüchtlingslager bestehen im Schnitt 20 Jahre, und die Menschen leben durchschnittlich 12 Jahre in den eigentlich nur temporär gedachten Strukturen. Eine große Herausforderung für das Design.

Besonders eindrucksvoll sind Kerbers Schilderungen aus dem Lager Za’atari in Jordanien, wo über 80.000 Geflüchtete leben. Das Design dieser und ähnlicher Zeltstädte, so kritisiert Kerber scharf, komme aus der Logistik und ähnele der Haltung von Legehennen. Doch die Menschen vor Ort fügen sich ebenso wenig in die am Reißbrett gezogenen Grenzen wie in die ihnen zugewiesenen Rollen, sondern wollen ihr Leben selbst gestalten. So entstand in Za’atari in Selbstorganisation eine als Champs-Élysées bezeichnete „Einkaufsmeile” mit 4000 Händlern. Außerdem bauten die Menschen außerhalb des vorgesehenen Grids ihre eigenen, organisch wachsenden, bedürfnisorientierten Siedlungsstrukturen und legten dafür sogar die Kanalisation um. „Die Aufgabe des Designs ist es”, so Kerber, „hinaus in die Welt zu gehen, die Menschen vor Ort ernst zu nehmen und nicht über ihre Köpfe hinweg Produkte zu produzieren.”

Publikum AGD Jahrestagung 2016 in Berlin

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Matthias Kutsch: Grenzhus Schlagsdorf

Nach der Mittagspause geht es weiter mit Matthias Kutsch, Ausstellungsdesigner, Museologe und künstlerischer Leiter der Impuls-Design GmbH aus Erlangen. In seinem Vortrag stellt Kutsch die Entwicklung eines Ausstellungskonzepts für das Grenzhus in Schlagsdorf vor, einem kleinen Ort südlich von Lübeck, an dem einst die deutsch-deutsche Grenze verlief. Kutsch freut sich über die Gelegenheit, im Rahmen der AGD Tagung seine Arbeit mal Kollegen vorstellen zu können, und daher „nichts verkaufen, sich nicht verstellen zu müssen”. Und so gibt er dann auch tiefe Einblicke in den langjährigen und holprigen Weg von der Projektplanung bis zur Umsetzung. Mit seinem Team von 17 Experten aus verschiedenen Disziplinen hatte Impuls-Design schon 2010 ein sehr schlüssiges Konzept für die Aufarbeitung und Vermittlung des vermeintlich historischen Grenzthemas entwickelt. Die verschiedenen Phasen der innerdeutschen Grenze wurden in den Entwürfen durch ein sich immer weiter verdichtendes visuelles Gitternetz an den Ausstellungswänden für die künftigen Besucher spürbar gemacht. Aus einem durchlässigen Zaun wurde sukzessive ein betonbewährter Todesstreifen und schließlich, nach dem Fall der Mauer, ein Lebensraum und Schutzbereich für die Natur. Die Dramaturgie des Raumkonzepts spiegelte diese Entwicklung, und lief so auf bewältigte Geschichte mit Happy End hinaus. Die Umsetzung wurde beschlossen, doch die Finanzierung war nicht gesichert, und so passierte jahrelang nichts. Ein weiteres gutes Designprojekt, das es leider nicht aus der Schublade schafft. Doch dann plötzlich, nur zwei Wochen vor der AGD-Tagung, erhielt Kutsch den Anruf, es solle weitergehen. Und hier wurde sein Vortrag besonders spannend. „Ist das Konzept überhaupt noch aktuell?” musste sich Kutsch nach dem Anruf fragen. Zweifel angesichts der Tatsache, dass in der Zwischenzeit überall auf der Welt neue Todesstreifen im Entstehen begriffen sind, und auch die Mauer in den Köpfen weiter besteht. Der Zweifel wird schnell zur Gewissheit: „Wir können das Grenzthema nicht in einer Dauerausstellung abschließend behandeln – es ist nicht Geschichte, sondern Gegenwart.” Alles muss also neu gedacht und gemacht werden, der alte Entwurf bleibt in der Schublade. Aus unternehmerischer Sicht eine hochriskante Schlussfolgerung, die jedoch jeder Designer sofort nachvollziehen kann. Es geht eben um die Sache, um das bestmögliche Ergebnis. Und so sei, schildert Kutsch, trotz des fehlenden finanziellen und zeitlichen Spielraums die Motivation im Team hoch, das Thema noch mal neu anzugehen. „Wir sind jetzt froh, nicht das alte Konzept umsetzen zu müssen.”

Publikum AGD Jahrestagung 2016 in Berlin

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Dagmar Wunderlich & Simon Kesting: Design für Alle

Die nächsten Sprecher sind die Architektin Dagmar Lautsch-Wunderlich und der Inclusive-Designer Simon Kesting, beide vom EDAD (Design für Alle – Deutschland e.V.). Mit ihrer Arbeit setzen sie sich für barrierefreies Gestalten und bequemes Bauen ein. Grenzen überschreiten heißt für sie, möglichst viele Nutzer zu erreichen, die vorher ausgeschlossen waren, weil ihre Körper nicht der vermeintlichen Norm entsprechen. Noch immer würde beim Bauen fälschlicherweise von einem Standardmenschen wie Le Corbusiers Modulor oder Da Vincis vetruvianischem Mann ausgegangen. Doch nicht alle Menschen lassen sich in die selbe Passform zwängen!” – und so setzen sich Wunderlich und Kesting dafür ein, beim Entwerfen von einer Vielfalt der Körperformen und -fähigkeiten auszugehen. Ziel dürfe es nicht sein, Sonderprodukte für die bisher alters- oder gesundheitsbedingt Ausgegrenzten zu entwickeln und diese Menschen so weiter zu stigmatisieren. Stattdessen sollten Produkte im Sinne der Inklusion so gestaltet sein, dass sie nicht nur für Menschen mit Behinderungen, sondern eben für Alle attraktiv und erstrebenswert sind. Grundprinzipien in diesem Feld sind Gebrauchsfreundlichkeit, Anpassbarkeit, Nutzerorientierung, ästhetische Qualität und Marktorientierung. Kurzum, kein stützstrumpffarbenes Seniorenhandy mit eingeschränkter Funktionalität und Riesenknöpfen, sondern ein stylisches Smartphone, dessen Bedienung sich ganz individuell anpassen lässt. Ein anschauliches Beispiel ist auch die bodengleiche Dusche – einst ein Nischenprodukt im Pflegebereich, heute ein Luxus, in dessen Genuss viele Menschen kommen wollen. Bei der Entwicklung entsprechender Produkte müsse man die Perspektiven der Nutzer frühzeitig in den Prozess mit einbeziehen und auch schon mal selbst einen Alterssimulationsanzug anlegen. Um Design für Alle möglich zu machen brauche es ein klares Bekenntnis der Entscheidungsträger, die wiederum erst mal verstehen müssten, dass die Entwicklung zwar erst mal mit höheren Investitionen verbunden ist, dann aber auch viel größere Absatzmärkte erschließen kann.

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Sabine Müller: Transformation eines Luxusrefugiums
Dass Inklusion nicht jedermanns Sache ist, und manche Menschen bereit sind, astronomische Summen dafür zu bezahlen, sich selbst aus der Gesellschaft auszuschließen, davon weiß die Berliner Architektin Sabine Müller zu berichten. Gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Quednau vom Büro SMAQ hat sie sich kritisch mit einem Refugium für Reiche, nämlich mit der künstlichen Insel Palm Jumeirah vor der Küste Dubais auseinandergesetzt. Entstanden ist ein umfassendes, spekulatives Konzept für die Neugestaltung des palmenförmigen Eilands. (Siehe ausführliches Interview in der agenda design #2). Die Insel ist zugleich ein Fluchtort für reiche Menschen und Materialisierung globaler Finanzströme, entstanden aus der Notwendigkeit des Kapitals, sich selbst zu vermehren. Das Beeindruckendste an dem Projekt von SMAQ ist, dass die Architekten ihre Lösungsansätze für eine nachhaltige Umgestaltung der Insel immer aus den vor Ort vorgefundenen Strukturen ableiten. „Die Insel ist eine Herausforderung an uns Designer, Form ernst zu nehmen. Man kann diese Strukturen nicht verwerfen, sondern muss mit ihnen arbeiten,” so Sabine Müller. Auch wenn ihr Projekt lediglich spekulativ sei, handle es sich nicht um eine Polemik, stattdessen gehe es darum, Haltung zu zeigen. Nachhaltigkeit, das spürt man den ganzen Vortrag hindurch, wird von SMAQ konsequent nicht nur in seiner ökologischen, sondern auch in seiner ökonomischen und vor allem sozialen Dimension verstanden. Wie im Vortrag von Daniel Kerber geht es nicht allein um das Entwerfen von Dingen, sondern um Social Design und die Gestaltung von Ökosystemen. Aus dem Publikum meldet sich schließlich noch Raphael Reimann mit dem Hinweis zu Wort, dass sich von diesem Ansatz auch die Städteplaner in Europa eine Scheibe abschneiden könnten, insbesondere wenn es daran gehe, unsere „autogerechte Stadt” zu einer menschengerechten Stadt zurückzubauen.

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Andreas Jacobs: Kreatives Arbeiten als Grenzverletzung

Der Vortrag des ersten Vorstandsvorsitzenden der AGD, Andreas Jacobs, beginnt mit einer Trigger-Warnung (einem an amerikanischen Hochschulen üblichen Hinweis, dass die folgenden Inhalte die Gefühle traumatisch vorbelasteter Zuhörer verletzen könnten). Anders als Anna Berkenbusch warnt Andreas Jacobs aber nicht vor Schockbildern, sondern davor, dass sein Beitrag Spuren von Esoterik enthalten werde – was heißt hier Spuren – dass es durchweg um Alchemie, Zahlenmystik und Tarot-Karten gehen werde! Da ich an einer schweren Esoterik-Allergie leide, hätte ich an diesem Punkt eigentlich fluchtartig den Saal verlassen müssen. Zum Glück hatte ich schon am Vorabend die Gelegenheit, mir von Andreas Jacobs persönlich die Grundlagen des Vortrags erklären und mich davon überzeugen zu lassen, dass es ihm nicht primär um Spökenkiekerei geht. Vielmehr führt er äußerst kenntnisreich und humorvoll in die Nutzung der sogenannten „heiligen Geometrie” der Kabbalah ein. „Ich sehe es als meine Aufgabe, dieses alte Wissen aus der Räucherstäbchenecke herauszuholen,” so Jacobs. Denn mit der Technik lassen sich die verschiedenen Phasen bei Entwicklung und Abwicklung eines Designprojekts auf kreative Weise zueinander in Bezug setzen. Prosaisch ausgedrückt kann die Struktur des Tarots einem so als Denkwerkzeug dienen, um assoziativ über Beziehungsgeflechte in der Projektplanung nachzudenken. Aus dem Publikum meldet sich eine skeptische Heide Hackenberg zu Wort, sie möchte wissen, wie denn Jacobs Kunden reagieren, wenn er ihnen mit dem Tarot kommt. Die Antwort folgt prompt mit einem breiten Grinsen: „Das mache ich natürlich nicht, ich verkaufe denen das als Design Thinking!” Gelöstes Lachen im Saal – plötzlich macht alles Sinn! – war einem der Kult ums Design Thinking nicht schon immer ein bisschen wie magisches Denken vorgekommen?

Publikum AGD Jahrestagung 2016 in Berlin

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Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia

Zum Abschluss wird es dann noch mal ernst, und dass obwohl mit Reinhard Kleist ein Comiczeichner die Bühne betritt. Kleist ist Künstler, Grafiker, Designer, Erzähler und zweimaliger Gewinner des Max-und-Moritz-Preises. „Mit Erschrecken habe ich festgestellt, dass ich schon seit zwanzig Jahren Comics zeichne.” Längst ist Kleist umgeschwenkt von fantastischen Themen zu Biografien bekannter Persönlichkeiten wie Johnny Cash und Nick Cave. Irgendwann lernte Kleist den ehemaligen Chef von Cap Anamur kennen, und begann sich dadurch stärker für Menschen auf der Flucht zu interessieren. So entstand die Graphic Novel „Der Traum von Olympia”, in welcher Kleist die wahre, tragische Geschichte der somalischen Sprinterin Samia Yusuf Omar nachzeichnet. Eine ergreifende Visualisierung einer gescheiterten Flucht nach Europa. Die junge Athletin hatte 2008 ihre Heimat bei der Olympiade in Peking vertreten, musste in ihrer Heimatstadt Mogadischu jedoch Repressalien der islamistischen al-Shabaab Miliz erdulden. „Kein guter Ort zum Trainieren für ein 17-jähriges Mädchen”. Deshalb und weil sie an der kommenden Olympiade in London teilnehmen wollte, machte sie sich auf die gefährliche Reise quer durch Nordafrika, durchquerte die Wüste und zahlreiche politische Grenzen, überstand sogar eine Entführung, doch ertrank schließlich vor der Küste Europas. Reinhard Kleist hat sich dem schwierigen Thema sehr behutsam, mit viel Recherche und Einfühlungsvermögen genähert. Kollegen aus der Verlagsbranche hatten ihn gewarnt, das Buch müsse ein Flop werden, weil die Leser die Themen Flucht und Tod lieber ausblenden wollten. Doch im Zug der Flüchtlingskrise war das Gegenteil der Fall, Kleist bekam viel Aufmerksamkeit und hat im Nachgang im Rahmen zahlreicher Workshops an Schulen gelernt, dass viele Menschen auf seine Zeichnungen direkter und emphatischer reagieren, als auf die Fotoflut mit der sie von den Medien zugeschüttet werden. „Die Zeichnung versucht gar nicht erst, die Wahrheit vorzugaukeln, sie ist immer subjektiv, und deshalb ehrlicher.” Für ARTE war Kleist 2013 sogar in einem Flüchtlingskamp im Nordirak, um vor Ort eine Reportage zu zeichnen und einen Comicworkshop mit den Kindern vor Ort durchzuführen. „Die Kinder haben häufig als erstes den Zaun gezeichnet, der das Lager begrenzt, denn da war für sie die Welt zu Ende!” Persönlich am stärksten berührt war Kleist von der Zeichnung eines kleinen Jungen, die ein weinendes Strichmännchen mit Maschinengewehr darstellte. „Ich musste fast selbst anfangen zu weinen,” so Kleist, „besser kann man das Thema Bürgerkrieg nicht auf den Punkt bringen.” Ein wirklich ergreifender Abschluss für die AGD Tagung zum Thema Grenzen, der vom Publikum entsprechend mit besonders langem und herzlichem Beifall honoriert wird.

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agd-40jahrestagung_herbert-popp-3556Lutz Hackenberg und Victoria Ringleb: 40 Jahre AGD

Nach einem kleinen Snack im mit Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg perforierten Hinterhof der Alten Münze wird es zum Abschluss der Tagung gemütlich und geschichtsträchtig. Für ihr Interview mit Verbandsgründer Lutz Hackenberg anlässlich des 40. Geburtstages der AGD hatte sich Geschäftsführerin Victoria Ringleb eigentlich ein Sofa im Stile Loriots gewünscht – doch zwei Sessel erfüllen den Zweck genauso gut. Irgendwann fällt dann noch der Strom aus, und das Publikum rückt (statt um den Kamin) um einen Laptop zusammen um die Bilder aus der Vereinsgeschichte sehen zu können. Wichtiger noch sind natürlich die Anekdoten. Man erfährt von der Ausgründung, 1976, aus dem Bund Deutscher Grafikdesigner, dass das Kürzel „AGD“ einst für „Arbeitskreis arbeitnehmerähnlicher Grafik-Designer“ stand, und dass es das erklärte Ziel war, die wirtschaftliche Lage der Designer mit einer Liste von Vergütungen voranzutreiben. Zudem galt und gilt es, seine Rechte zu kennen: „Das Urheberrecht ist das Arbeitsrecht der Kreativen, wer sich damit nicht auskennt, ist ‘ne arme Sau,“ so Lutz Hackenberg.

Auch erfährt das Publikum von Hackenbergs geschickten Manövern, um als Berufsverband auf dem Meer der freien Marktwirtschaft das Kartellamt im Rücken zu haben; von familiären Strukturen, handschriftlichen und künstlerischen Aufnahmeanträgen und dem analogen Mitgliederverzeichnis. Alsbald wuchs dies an, und aus einem Pappkarton mit einigen Unterlagen wurde eine voll ausgestattete Geschäftsstelle in Braunschweig. Man erinnert sich an „die große Freude der Maueröffnung“, die ab 1991 abwechselnd in Ost und West stattfindenden Mitgliederversammlungen und die legendäre Rolle von Schloss Waldeck für das kollektive Gedächtnis des Verbands – Typografie um Mitternacht, Rittersaal und Kanonenschüsse nebst vorgetäuschter Brandschatzung im Tal. Immer wieder hilft Heide Hackenberg aus der ersten Reihe der Erinnerung auf die Sprünge. Eigentlich wäre sie auf der Bühne besser aufgehoben, denn über Jahrzehnte hat sie den Verband vielfältig nach außen vertreten, nicht zuletzt durch die Herausgabe von 72 Ausgaben „AGD Quartal“, doch die Rollenverteilung ist eingespielt: „Mein Mann ist der Redner, ich bin die Schreiberin.“

Schließlich wendet sich das Gespräch Richtung Victoria Ringleb, der die Herausforderung zufällt, den Verband in die Zukunft zu führen. „Ich bewundere, dass sie sich die Schuhe, die da rumstanden angezogen haben“, so Lutz Hackenberg. Worauf sie besonders stolz sei und was sie sich für den Verband wünsche? „Stolz bin ich neben dem neuen VTV auf die gute Zusammenarbeit mit dem Vorstand – gerade auch bei den nicht ausbleibenden Meinungsverschiedenheiten.“ Man habe sich schon „mit unglaublicher Wertschätzung angeschrien“, ohne dabei je die Grenze des persönlichen Respekts zu verletzen. „Mein Wunschszenario ist“, so Ringleb, „dass die AGD ihre Mitte wiederfindet.“

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