Wir fanden einen Artikel im Internet zu einem neuen, beeindruckenden Graphic Novel: Columbusstraße. Er erzählt eine Familiengeschichte nach, die von der Erlebnissen des Vaters des Autors im Zweiten Weltkrieg gezeichnet ist und die Geschehnisse mit Gänsehautfeeling nah an die Leserschaft heranträgt.
Da wir in der AGD auf einen großen Pool an Kreativität und Expertise zurückgreifen können, war uns klar, dass ein Graphic Novel eine doppelte Rezension braucht: eine texterisch inhaltliche Rezension und eine Rezension des Zeichenstils. Wo wäre eine solche Aufagbe besser aufgehoben als bei uns?
Im Folgenden könnt ihr die Rezension als unterhaltsames Zwiegespräch zwischen der Texterin Christina Sahr und dem Illustrator und Grafikdesigner STERO (Stefan Roth) lesen.
Über das Werk
»Nach dem Tod seines Vaters entdeckt Tobi Dahmen eine Sammlung alter Familienbriefe. Ausgehend von den bewegenden Zeitzeugnissen rekonstruiert er eine Chronik der deutschen Kriegsjahre im Spiegel seiner eigenen Familiengeschichte.« Carlsen Verlag
Das persönliche Material ergänzte Tobi Dahmen um historische Daten, die Materialrecherche dauerte Jahre, und so ist ein zugleich sehr persönliches und sehr umfassendes Werk entstanden. Die Fülle der Fakten ist überwältigend, zusammen mit den Bildern konfrontieren sie uns mit der Monstrosität dieses Krieges. Und die Entscheidung des Großvaters Karl Dahmen – Anwalt, gläubiger Katholik, aufrechter Geist – in die Partei einzutreten, verstehen wir als unausweichlich.
Christina und STERO im Zwiegespräch
Christina: »STERO, du sagst, das Buch sei ›der Hammer‹ und beziehst Dich dabei nicht nur auf sein Gewicht von knapp 2 Kilo. Was hat Dich besonders beeindruckt?«
STERO: »Ja, voller Hammer: Als passionierter, beruflicher Zeichner bin ich natürlich von der Qualität und der Aussagekraft der Illustrationen vollkommen überwältigt und fast erschlagen.
Außerdem: Geschichte wird von den Siegern geschrieben, heißt es oft. Hier nicht. Hier wird Geschichte auf über 500 Seiten vom Nachkommen der Menschen geschrieben und gezeichnet, die sie erlebt haben. Tobi Dahmen holt mit der Graphic Novel ›Columbusstraße‹ die Zuschauer mit aufs Sofa seines Elternhauses, mit in den Schützengraben, mitten hinein in die kalten Nächte des Zweiten Weltkrieges in Deutschland.«
Christina: »Ja, Familie Dahmen wird gezwungen, ihr Haus umzubauen, damit es sicher vor Bomben ist. Doch dann sollen sie doch nachts in den offiziellen Luftschutzbunker. Vater Karl weigert sich, Frau und Kinder gehen und werden dort mit vielen anderen die ganze Nacht über eingeschlossen. Als sie am nächsten Morgen nach Hause kommen, serviert der Vater ihnen Tee. Seine Hände zittern. Wir alle wissen um diese Nächte voller Angst, aber hier kann man sie wirklich spüren.«
STERO: »Der starke Vater zeigt Schwäche und seine Frau tröstet ihn. Mit einer fantastischen Mischung aus Schnörkellosigkeit und gleichzeitiger Sensibilität schafft Dahmen es, die Beziehungen zwischen den Menschen und in der Familie glaubhaft und nachvollziehbar zu illustrieren. Er zeichnet sensibel und liebevoll die Beziehungen, die Gespräche, die kleinen Geschichten in der großen Familiengeschichte.«
Christina: »Etwas wird sehr deutlich in diesem Buch: wie die allgegenwärtige Angst der Menschen ihr Handeln oder auch ihr Nichthandeln beeinflusst hat. Vater Dahmen wird wegen kritischer Äußerungen zur Gestapo zitiert – und tritt irgendwann der Partei bei, weil ihm immer mehr Mandate entzogen werden und er Angst um seine Familie hat. Sein Schwager, der sich laut gegen Nazis ausspricht, wird erschossen. Er ist eine Ausnahme. Wer kann, duckt sich weg. Und was soll man den Menschen anderes raten? Am frühesten gezeichneten Morgen im Jahr 1935 war es schon viel zu spät, mit Widerstand zu beginnen. Mit Blick auf die aktuelle politische Situation würde ich das Buch am liebsten an die gesamte Bevölkerung verteilen.«
STERO: »Bei dem Gedanken macht mein Künstlerherz einen Hüpfer. Ja, so sollte man Geschichtsunterricht betreiben. Durch die kraftvollen Bilder bleibt es auch eher in den Köpfen als durch Statistiken und Zahlenreihe. Wenn ich nur an die Auflistung und Darstellung der diversen Kampfbomber vor dem Großangriff auf Düsseldorf denke. So kann man es wirklich nachfühlen, nachvollziehen. Und die Wiederholung solcher Dramen in Zukunft durch frühe Bildung verhindern …«
Christina: »Mir ist außerdem aufgefallen, wie wichtig die Schicksale der Kinder für Dahmen sind. Der kleine Karl-Leo, der spätere Vater von Tobi, wird ständig von einem Ort an den anderen geschickt, um ihn vor den Bomben in Sicherheit zu bringen. Zurück in Düsseldorf, begleiten wir ihn auf seinem Schulweg – quer durch alle Gräuel des Krieges.«
STERO: »Eine kleine, wortlose Bildergeschichte, in der Tobi es schafft, den kleinen Karl-Leo an fast allem vorbeikommen zu lassen, was der Krieg mit sich bringt: Gewalt, Trümmer, Tod und auch Hoffnung, Zuversicht und Zusammenhalt.«
Christina: »Als er ankommt, ist das Gymnasien zerbombt. Und der kleine Kleo muss wieder einmal die Stadt verlassen. Diesmal geht es nach Villingen in Süddeutschland, während Bruder Peter in Russland unter Trommelfeuer liegt.«
STERO: »Das finde ich in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert: Es gelingt Dahmen mit grobem, ruppigem Pinselstrich die Grausamkeit des Krieges, der Schützengräben und des damit verbundenen Leids zu erfassen. Und auch wenn es grob wird, brutal wird – immer behält er den Respekt vor den Leidtragenden.«
Christina: »Und oft ist es sehr brutal, STERO. Felder voller toter Soldaten, erfrierende Soldaten, Soldaten mit zerschossenen Gesichtern, Tobi Dahmen erspart uns nichts davon.«
STERO: »Und doch, Christina: Durch die konsequente (Nicht-)Farbgebung der Illustrationen in Schwarzweiß wird jeder Erwartungs-Anflug Richtung Sensationsgier, Blut, Splatter- oder Actioncomic im Keim erstickt. Stattdessen unterstreichen und betonen mutig gesetzte Kontraste die Dramatik der Geschehnisse.
Unglaublich beeindruckend sind die vielen Doppelseiten, auf denen Tobi Dahmen manchmal die ganze Spannung der Geschichte in einer Seite einfängt. Der russische Winter auf Seite 151 – mit wenigen Strichen und Flächen visualisiert – lässt den Leser die Kälte spüren. Die Illustration zum Bombenangriff auf Düsseldorf lässt in ihrer minimalistischen, düsteren Darstellung ausreichend Platz für gedankliches Erleben. Und auf diese Weise schenkt Tobi dem Betrachter noch viele weitere, künstlerisch hochwertigst gestaltete Doppelseiten.«
Christina: »Ebenso stark finde ich die Seiten, auf denen er ganz konsequent Text-Bild-Scheren einsetzt. Was wir lesen auf Seite 333 ist der Brief von Eberhardt an seine Eltern: ›Heute morgen bin ich einmal etwas früher aufgestanden als sonst. Um 4:00 Uhr schlug hier eine Nachtigall. Es ist überhaupt das erste Mal, dass ich ihre schönen Töne höre. Mutti hat recht, wie schön ist die Natur jetzt, fast zu schön für uns unverständige Menschen.‹ Was wir sehen: Soldaten, die ihren toten Kameraden begraben, in einem Schützengraben liegen weitere Tote. Wenn wir Texte und Bilder getrennt rezensiert hätten, wären zwei unterschiedliche Geschichten entstanden.«
STERO: »Nein, das glaub ich nicht. Tobi Dahmen schafft hier die Kunst, sowohl die Kraft und Bedeutung der Sprache als auch unglaublich hochwertige Illustrationen in einer liebevollen, ruppig verpackten Geschichte darzustellen. Ich glaube, wir hätten ähnlich geschrieben.«
Christina: »Sprache und Bilder in ›Columbusstraße‹ schicken einen auf Zeitreise. Es gibt Sätze wie ›Seien Sie in Zukunft vorsichtiger, Sie besitzen nun ein Karthotekenblatt‹ als Warnung der Gestapo an den Anwalt …«
STERO: »Und im Bild bringt Tobi akribisch genau und mit ruhigem Strich die Architektur der Geschichte zu Papier und unterstreicht damit die Authentizität des ganzen Buchprojektes. Die gelungene, perfekt umgesetzte Integration gescannter Originaldokumente aus der Zeit geben einem das Gefühl, direkt dabei zu sein. Diese kleinen Kurzsequenzen bringen auch immer wieder Ruhe in das Geschehen.«
Christina: »Oh, STERO. Angst, Wut, Verzweiflung, aber auch Fürsorge, Freude und eine große Zärtlichkeit – dieses Buch schickt uns auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Man fühlt sich dichter an den Menschen und am Geschehen als in vielen Spielfilmen, und ich hatte mehr als einmal Tränen in den Augen. Und bei aller Düsternis ist es extrem spannend. Was meinst du, STERO?«
STERO: »Ja, man will – hat man sie einmal begonnen – die Graphic Novel ›Columbusstraße‹ nicht mehr aus der Hand legen und fiebert mit der gesamten Familie Dahmen und ihrem Umfeld die gesamten Kriegsjahre mit. Und einige Male verweilt man – über den tollen, starken Bildern. Und schaut sie nochmals an und nochmals an. Diese Zeitreise ist eine absolute Empfehlung – sowohl für Geschichtsinteressierte als auch für Fans kraftvoller, künstlerischer Illustrationen.«
Über die Rezensent:innen
STERO, Stefan Roth, Jahrgang 1978.
Mit Begeisterung und Freude zeichne ich für Zeitungen, Magazine, Bildverlage, Buchverlage und auch Firmen aller Art Cartoons, Comics und Illustrationen.
In Attenweiler bei Biberach lebe ich auf einem ehemaligen Bauernhof mit meiner Familie, ein paar Hasen und Hühnern und zwei vorwitzigen geretteten Hängebauchschweinen.
Christina Sahr, Jahrgang 1962.
Ich arbeite als erfolgreiche Freiberuflerin seit dem Studium. Ich formuliere auf den Punkt – was nach Art und Wunsch des Auftraggebers zum Beispiel prägnant, warmherzig, rhythmisch oder höchst verständlich heißen kann.
Erfahrungsschwerpunkte: Dienstleistungen (Recht, Unternehmensberatung, Architektur), Technik (Produktion, IT), Soziales (vor allem Drogen- und Jugendarbeit), Tourismus, Zeitgeist und Design.
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