Feuerwerk in den Synapsen

Thomas Hoyer im Gespräch mit dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsminister, Christian Hirte, anlässlich des AGD-Neujahrsempfang am 29. Januar 2019

Thomas Hoyer ist AGD-Mitglied und Kalligraph. Vielen AGD-Kollegen ist er bekannt als der Schöpfer der schönsten Namensschilder, die es auf AGD-Veranstaltungen gibt. Eine breitere Öffentlichkeit kennt sein kalligraphisches »Mein« vor »RTL«. Und Thomas Hoyer unterrichtet belgische Schulkinder in Kalligraphie.

Thomas, im Ernst? An belgischen Grundschulen wird Kalligraphie gelehrt?
Unter Umständen. Neben den Flamen und den Wallonen gibt es die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien, ein eigenständiges Bundesland, das recht wohlhabend ist. Sie leistet es sich, Künstler zu bezahlen, die dann für Projekttage an Schulen gehen. Die Künstler erstellen Angebote, die werden vom zuständigen Ministerium geprüft und in Katalogen zusammengefasst, die dann an die Schulen gehen. Die Schulen können aus ganz unterschiedlichen Angeboten auswählen: Naturspaziergänge, Trommel bauen oder eben Kalligraphie. Das Programm »Kultur macht Schule« sorgt dafür, dass eben mehr Kultur an die Schulen kommt und die Kinder etwas kennenlernen, was sie sonst nicht kennenlernen würden. Und es wird den beteiligten Künstlern Respekt gezollt dadurch, dass ihre Leistungen entsprechend vergütet werden.
Was ist anders am Unterricht für Kinder als an dem für Erwachsene?
Es ist eine schöne Erfahrung, dass Kinder, sogar schon vom ersten Schuljahr an, für Kalligraphie zu begeistern sind. Die sind zum Teil auch mit einer ganz anderen Kreativität unterwegs. Und ich hoffe, eine Saat zu sähen, indem die Kinder erkennen: Schreiben ist nicht nur dazu da, Informationen festzuhalten, man kann damit auch gestalten. Und das macht Spaß. Ich arbeite mit Filzstiften und Wasserfarben, also Materialien, die den Kindern bekannt sind und die sie auch zu Hause haben. So entstehen fröhliche, bunte Werke.
Das hat also nichts mit Schreibenlernen zu tun.
Nein, nur mit Gestalten. Aber abgesehen davon wird in der deutschen Gemeinschaft in Belgien noch viel Wert auf Schönschreiben gelegt. Und die Kinder lernen eine Schreibschrift, die der lateinischen Ausgangsschrift sehr ähnlich ist. Die, wie ich und viele Kollegen finden, beste Voraussetzung, um später eine gute Handschrift zu entwickeln.
AGD Neujajrsempfang 2019
Handschrift schreiben macht ja auch etwas mit dem Gehirn, nicht wahr?
In Deutschland wird ja oft nur noch Druckschrift gelehrt. Das ist kurzsichtig. Denn auch wenn es herausfordernder ist, sich mit Schwüngen und verbundenen Buchstaben zu beschäftigen, ist es für das Gehirn und deren Entwicklung klar von Vorteil. Gerade das Vor- und Zurückschwingen fordert beide Gehirnhälften, schult die Auge-Hand-Koordination, die Feinmotorik; es entsteht ein wahres Feuerwerk in den Synapsen, wenn Kinder eine Schreibschrift schreiben. Es gibt einen ganzen Stapel von Untersuchungen, die belegen, wie positiv das Schreiben mit der Hand ist.
Nenn doch bitte noch ein Beispiel.
Man hat untersucht, was passiert, wenn Studenten Vorlesungen mit der Hand oder auf dem Computer mitschreiben. Die Gedächtnisleistung ist ungefähr die selbe, erstaunlicherweise. Der große Unterschied: Bei der Gruppe, die von Hand mitgeschrieben hat, wurden die neuen Inhalte mit denen, die schon im Gedächtnis gespeichert waren verknüpft, also direkt weiterverarbeitet. Bei der Gruppe, die nur getippt hat, gab es diesen Effekt nicht.
Und da geht es ja schlicht um Handschrift. Kann Kalligraphie noch mehr?
Der wichtigste Unterschied zwischen Handschrift und Kalligraphie ist der, dass die Handschrift ein unbewusster Prozess ist, die Kalligraphie, die Textkunst, ein bewusster. Sie ist, denke ich, die einzige Kunst, bei der beide Gehirnhälften gleich und gleichberechtigt benötigt werden. Text, Sprache liegt auf der linken Gehirnhälfte, Kreativität und Motorik liegen auf der rechten. Beide werden gebraucht, um ein kalligraphisches Werk zu schaffen. Ich unterrichte jetzt seit 25 Jahren und erlebe immer wieder, dass die Seminarteilnehmer am Ende des Tages gut gelaunt aber deutlich erschöpft sind und trotz der drei Mahlzeiten plus Kaffee und Kuchen, die es in den Seminarhäusern gibt, reinhauen, als hätten sie auf dem Feld gearbeitet. Zwanzig Prozent aller Kalorien, die wir zu uns nehmen, werden vom Gehirn verbraucht. Kalligraphie ist Schwerarbeit fürs Gehirn. Und hat den positiven Nebeneffekt, dass die Teilnehmer an nichts anderes denken können und so vollkommen entspannen.
Also ist Kalligraphie gesund?
Ja, es gibt Untersuchungen eines Wissenschaftlers aus Hongkong, die sich zu 95 Prozent auch in unseren Kulturkreis übertragen lassen. Nach ihnen wird durch kalligraphisches Arbeiten der Puls verlangsamt und der Blutdruck gesenkt. Außerdem kann man sich länger konzentrieren. Die Lehrer der Schulklassen, in die ich gehe, sind immer überrascht, wie ruhig es in den Klassen ist und wie lange die Schüler bei der Sache bleiben. Bei Kindern wie bei Erwachsenen setzt die Kalligraphie einen wunderbaren Kontrapunkt in unserem ständig hektischer werdenden Leben. Außerdem tut es Menschen immer gut, kreativ zu sein, etwas zu produzieren.
Kalligraphie und auch Handschrift sind also in vieler Hinsicht gut und nützlich. Dennoch scheint beides auf dem Rückmarsch.
Ich denke, das ist wie so oft: Erst muss etwas den Bach runtergehen, bis es dann einen Aufschrei gibt »Oh je, was verlieren wir hier an Kulturtechnik« und das Ruder wieder herumgerissen wird. Das ist meine Hoffnung. Auch gestützt dadurch, dass es gerade die erste Kalligraphie- und Handlettering-Konferenz in Deutschland gegeben hat – was großartig ist! Auf einmal sind viele, mehrheitlich junge Leute unterwegs, die das professionell oder wenigstens halbprofessionell anbieten. Gerade das Handlettering ist sehr in Mode. Als ich damals in den 90ern anfing, habe ich, wie wohl fast jeder Kollege, überlegt: Will ich mich wirklich Kalligraph nennen? Gibt es nicht einen anderen Begriff? Schriftkünstler oder -gestalter? Einen Begriff, der hilft, das Wort Kalligraph zu vermeiden, weil es in den Köpfen so betonharte Klischees gibt, was Kalligraphie bedeutet. Nämlich Mittelalter. Es hat keinen Bezug zum Alltag, man kann sein ganzes Leben verbringen, ohne überhaupt das Wort gehört zu haben. Und wenn Leute dem Wort begegnen, dann im Museum und im Bezug auf die alten Schinken, die im Mittelalter geschaffen worden sind. So hat sich das in den Köpfen festgesetzt: Im Mittelalter fand die Kunst der Kalligraphie ihr Ende. Kalligraphie – die einzige Kunst, die sich nie weiterentwickelt hat. Absurd.
Aber die Menschen nehmen es so wahr.
Ja, die Kalligraphie führt ein Nischendasein. Jedenfalls die westliche. Die östliche, die chinesische Kalligraphie hat ein anderes Image. Mit dem Kulturtourismus, der im 19. Jahrhundert aufkam, der die chinesische Kultur und Kunst in die westlichen Galerien, Museen, Weltausstellungen brachte, kam auch die chinesische Kalligraphie zu uns. Sie wurde uns ganz selbstverständlich als Kunst präsentiert, das hat sich in Europa auch so eingeprägt, während westliche Kalligrafie eher als Handwerk wahrgenommen wurde, da sie immer einen Zweck erfüllt: Urkunde, Gästebuch oder ganze Bücher schreiben. Sie ist nicht Kunst per se.
Und du denkst, durch Veranstaltungen wie das »Berlin Letters Festival« ändert sich das?
Ja. Oder vielmehr ist das Festival ein Zeichen dafür, dass sich schon etwas verändert hat, für ein neu aufgeflammtes Interesse am Schreiben. Handschrift wirkt auf einmal modern, es gibt Begriffe wie »Handlettering« und »New Calligraphy«, obwohl nichts daran neu ist. Kalligraphie ist damit erstmals losgelöst vom Mittelalter, es ist etwas, das scheinbar ganz neu entstanden ist und die Menschen verbinden es nicht mit vergangenen Jahrhunderten, sondern es ist etwas Modernes. Etwas Tolles, was sich auf der Konferenz auch gezeigt hat: Es gibt keine harten Grenzen mehr. Früher gab es Kalligraphie, es gab Graffiti, und es gab Typografie. Heute ist alles eins. Es sind Leute aus allen Sparten und aller Welt dort gewesen und haben sich ausgetauscht. Es ging immer darum, mit analoger Schrift zu arbeiten, auch wenn sie später vielleicht digitalisiert wird. Das ist das Verbindende. Das ist toll. Und die Konferenz war ausgebucht.
Das Interview führte Christina Sahr.

 

Nachoben