Tablet Publishing: pinchen, swipen, scrollen zum Lesen

Unser Rezeptionsverhalten hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Dem Blättern in Printobjekten und Klicken auf Websites haben sich dank Smartphones und Tablets noch vielerlei Gesten hinzugesellt. Pinchen, swipen, scrollen und vielerlei Fingergesten mehr ermöglichen uns eine interaktive Informationsaufnahme.

Auch die Informationstechniken selbst sind vielfältiger geworden, denn gerade auf Tablets können einst getrennte Wahrnehmungskanäle gut zusammengeführt werden. Lese ich zum Beispiel einen Reisebericht in einer Tablet-App, kann ich mit einem „Tap“ ergänzend einen gesprochenen Text in Landessprache hören oder einen Film über die Geschichte des Gebäudes sehen, vor dem ich gerade stehe. Ich kann mir Alben mit Bildern des Inneren eines nicht zugänglichen Palastes anschauen, ich kann ein Stadtpanorama mit Tag- und Nachtbildern betrachten oder zu den Restaurantempfehlungen vertiefende Informationen ansehen – ohne meine App zu verlassen.

Das hat natürlich Folgen für das Gestalten, denn mit den Tablet-Layouts – die sich noch oft an verwandten Printobjekten orientieren – sind zusätzliche zahlreiche Navigationselemente zu gestalten, deren Funktionen sich dem Nutzer sofort erschließen müssen. Und überhaupt stehen die Nutzer, ihr Verhalten, ihre Neugierde und Wünsche viel stärker im Fokus als es Designerinnen und Designer von Printobjekten kennen. Meistens sind die Layouts für Tablet-Apps aufwändig, spannend und zeitgemäß gestaltet, mitunter auch laut, aber fast immer lebendig und zur Aktion einladend.

Mit dem Gestalten für interaktive Objekte ändert sich auch manches Andere, denn die Gestalter von Tablet-Apps brauchen weiteres Wissen und müssen vielschichtiger, vernetzter und technischer Entwerfen. Das ist jedoch nicht so aufwändig wie es zunächst scheint, das lässt sich lernen: Seit Kurzem haben wir im AGD-Weiterbildungsangebot ein Zweitages-Seminar zum Tablet-Publishing. Wir baten die beiden Dozenten, die AGD-Designer Uwe Steinacker und Annika Lyndgrun von der TypeSchool in Düsseldorf, um Beispiels und ein umfassendes Interview.

Beispiel Keuco

Beispielhaft: Der marktführende Sanitärhersteller KEUCO aus dem Sauerland hat seinen Produktkatalog auch als App veröffentlicht. Auf Interaktivität setzt die KEUCO-App immer dann, wenn es einen Mehrwert für den Leser gibt. Hier können Sie Ihr Waschbecken gestalten oder die Funktionen eines Spiegels selber testen.

 

 Für welche Inhalte und Designobjekte bietet sich Tablet Publishing an?
Uwe Steinacker: Die meisten kennen Smartphone-Apps, viele auch schon mit redaktionellen Apps für Tablets – zum Beispiel Reiseführern – in Kontakt gekommen und haben so interaktive Möglichkeiten „für unterwegs“ kennengelernt.
Weitere Möglichkeiten für redaktionelle Tablet-Apps sind Lifestyle-Magazine, Broschüren und Geschäftsberichte, vertriebsunterstützende Produktinformationen wie Produktschulungen oder Betriebsanleitungen deren Komplexität über bloßen Text hinausgeht. Eine spannende und besonders zukunftsträchtige Möglichkeit bietet Tablet-Publishings im Bildungsbereich, etwa für das Selbststudium.
Die wenigsten vermuten, dass sich Apps für Tablets auch hervorragend als Marketing-Instrument oder zur Unterstützung von Vertriebswegen, wie bei der Beratung durch den Außendienst eignen.

 

Was ist für den Betrachter das besondere Reizvolle, das eine gut gemachte Internetseite nicht auch bieten würde?
Uwe Steinacker: Der ganz große Vorteil beim Digital Publishing ist natürlich der Spaßfaktor, der durch ein neues Leseerlebnis entsteht: der Leser beeinflusst – ohne Maus und Kabel – allein mit Wischgesten den Inhalt. Das ist eine sehr unmittelbare Kommunikation mit dem Gerät. Ein weiterer Aspekt ist, dass Mobilität heute auf der Couch beginnt. So kann man mit dem iPad interaktiv „verreisen“, sich beruflich weiterbilden oder soziale Netzwerke pflegen.
Vertriebstechnisch bietet es die Möglichkeit, weltweit Informationen schneller zu aktualisieren und mit sehr präzisen Analyse-Tools mehr über das Lese- und Kaufverhalten zu erfahren. Nicht zu vergessen bietet Digital Publishing eine enorme Anschubkraft für Werbung und Verkaufsförderung: der Nutzer kann die Inhalte selbst auswählen und erschließen. So identifiziert er sich stärker mit der angebotenen Dienstleistung oder dem beworbenen Produkt.

Immer mittendrin: Merian setzt auch auf interaktives Reisen mit dem Tablet. Hier ein schöner Vergleich zwischen der Print- und der Digitalausgabe, gedacht für verschiedene Zielgruppen.

 

Gibt es so etwas wie eine Typologie der Leser bzw. Betrachter? Sowohl als Zielgruppe betrachtet als auch in ihrer spezifischen Art das neue Medium zu nutzen?
Annika Lyndgrun: Sicherlich ist das Tablet für viele der sogenannten jungen „Digital Natives“, die mit dem Internet aufgewachsen sind, ein Alltagsgegenstand. Das Alter darf man jedoch nicht überbewerten, denn es kommt viel mehr auf eine offene Haltung gegenüber neuen Medien an. Im Sinus-Milieu sitzt diese Zielgruppe eher oben rechts und vertritt Werte wie Mobilität, Multi-Optionalität, Kreativität und Selbstbestimmtheit. Oft haben diese Leser auch ein überdurchschnittliches Einkommen. Da Tablets aber immer günstiger werden, finden sie immer mehr auch in ganz „bürgerlichen Wohnzimmern“ Einzug.
Im Alltag werden die Tablets vor allem nach 18 Uhr und danach nochmal stark gegen 22 Uhr verwendet. Der durchschnittliche Leser lässt sich also auf dem Weg nach Hause und kurz vor dem Einschlafen gern unterhalten.

Zeigen was maximal geht: Das japanische Design-Magazin Katachi zeigt sich als wahres Feuerwerk der Typografie, Fotografie und interaktiven Kunst. Was dieses Magazin zu bieten hat ist Seite für Seite ein optischer Genus – und kostet lediglich 2,99 Euro.

 

Womit machen die Herausgeber ihren Gewinn? Die meisten Magazine sind „Schwestern“ von Printprodukten, enthalten aber oft keine Anzeigen. Etliche eigenständige, phantastische und kostenfreie Tablet-Magazine, haben ebenfalls wenig Werbung. Manche Titel verschwinden auch nach einigen Ausgaben wieder vom Markt. Gibt es Genres, in denen der Vertrieb besonders gut läuft?
Annika Lyndgrun: Von riesigen unmittelbaren Umsätze durch Tablet-Publikationen habe ich bisher noch nicht gehört. Bei vielen Projekten ist der kurzfristige Gewinn gar so wichtig, sondern es soll langfristig eine neue Zielgruppe mit dem Tablet erreicht werden. So etwas dauert immer länger als kurzfristig für Abverkäufe zu sorgen. Für Unternehmen, die von technischen oder kreativen Innovation leben, ist die Tablet-Publikation für das – schwer in Zahlen zu messende – Markenimage wichtig.
Mittlerweile kennt man auch einige Fehler, die dazu führen, dass die Reise nach ein paar Ausgaben zu Ende ist. Zum Beispiel sollte man den Lesern der App-Ausgabe immer Bonusmaterial wie exklusive Downloads oder zusätzliche Videos anbieten. Dieser Mehrwert wird schlicht erwartet. Am besten gibt man zusätzlich noch die Printversion als einfaches PDF mit.
Es stimmt allerdings, dass die Marketing-Abteilungen in Deutschland erst langsam auf den Geschmack kommen, Anzeigen in Tablet-Ausgaben zu schalten. Aber die Tendenz steigt und es ist ja auch sehr attraktiv, weil man wie bei Online-Werbung das Nutzerverhalten sehr gut analysieren kann. Vor allem im Tourismus-Sektor ist man für dieses Thema sehr offen. Letztens habe ich ein Reise-Magazin als App gelesen, das nach jedem zweiten Artikel eine Anzeige hatte. Das war fast schon zuviel des Guten.

Selbermachen: Das Do-it-yourself-Magazin MIYNK aus Frankreich setzt von Anfang an auf angenehm verträumte Animation und verführt zum Selbermachen. Die App zeigt alles, was man für ein jeweiliges DIY-Projekt benötigt und wie man es schnell und einfach bestellen kann.

 

Wer gestaltet und produziert die Ausgaben? Sind es die gleichen Gestalter, die auch die Printversionen gestalten? Oder sind es eher internetaffine Kollegen? Oder übernehmen selbstständige Designer die Gestaltung?
Annika Lyndgrun: Als ich in freier Mitarbeit bei einem Verlag gearbeitet habe, war ich in der Kreationsabteilung sozusagen die Tablet-Spezialistin und habe die Printlayouts fürs Tablet umgestaltet. Hier hatte ich oft den Eindruck, dass die Print-Kollegen fast ehrfürchtig einen Bogen um das iPad gemacht haben, das zum App-Testen auf meinem Schreibtisch lag. So eine Scheu ist natürlich unberechtigt, aber ich komme selber auch aus dem Print und bin alles andere als ein Programmierprofi. Ich habe damals ausschließlich in InDesign gearbeitet und hätte alle Handgriffe zeigen können.
Aus wirtschaftlichen Gründen scheint diese Arbeitsteilung in Tablet- und Magazin-Designern vor allem bei den großen Verlagen und Unternehmen Standard zu sein. Ich dagegen arbeite selbstständig und eher medienübergreifend. Die Grenzen zwischen Print und Digital verschwimmen und die technischen Hürden sind für Designer deutlich niedriger als noch vor einigen Jahren.

 

Im Unterschied zu einem Printprodukt werden bei einem Tablet-Magazin viele Daten aus recht unterschiedlichen Quellen verknüpft. Wenn deshalb etwas nicht funktionieren sollte, wie sieht es dann mit der Haftung der Designer aus?
Uwe Steinacker: Hier verhält es sich ähnlich wie im Print-Bereich: Der Designer oder die Werbeagentur hat korrekte Druckdaten an die Druckerei abzugeben; für die Richtigkeit der Inhalte und eventuelle Druckfehler sollte der Auftraggeber durch eine schriftliche Freigabe haften. So sollte es zumindest in den Allgemeinen Vertragsgrundlagen beschrieben sein. Eine App muss ebenfalls auf Funktionsfähigkeit geprüft und Abwicklungen wie Downloads getestet werden. Sollte hier etwas nach Veröffentlichung schief laufen, müssen auch hier Auftraggeber und Entwickler gemeinsam nach einer Lösung des Problems suchen. Anders als im Printbereich können hier Fehler aber glücklicherweise schneller und günstiger behoben werden.

 

Welche Fähigkeiten und welches Wissen müssen Designerinnen und Designer erwerben, die sich in diesem Markt engagieren wollen? Auf welchem Niveau wird ihre Tätigkeit vergütet?
Uwe Steinacker: Egal ob Texter, Werbekonzeptioner, Grafik- oder Kommunikationsdesigner: künftig müssen wir weitaus mehr medienübergreifend denken und handeln. Die Tätigkeitsfelder von Print und Digital verschmelzen zur Zeit enorm. Wer schreibt weiß längst, dass ein Text im Print-Medium ein anderer sein muss als für eine Internetseite. Ähnlich verhält es sich, wenn man für Tablets konzipiert und gestaltet. Man muss sensibel für das jeweilige Medium sein, und da besteht bei vielen Grafikdesignern noch Nachholbedarf.
Annika Lyndgrun: Welches technische und gestalterische Wissen Designer im Digital Publishing brauchen, hängt übrigens sehr von der Art der gewünschten Publikation ab. Da gibt es eine große Spannbreite: von einem einfachen PDF als e-Paper über halbautomatisch erzeugte Layouts bis hin zu aufwändig gestalteten Apps. Daran orientiert sich natürlich auch die Vergütung.
Uwe Steinacker: Was die Vergütung dieser Tätigkeit betrifft, so sollte sich diese an die Leistungsbereiche Konzeption und Text sowie Design und Umsetzung orientieren. Jedoch empfehlen wir, hier einen kleinen Aufschlag zu erheben, da es sich hier um ein spezielles Wissen handelt, das bei weitem noch nicht von jedem Mitbewerber abgedeckt werden kann.
Annika Lyndgrun: Dazu noch unbedingt ein Tipp: Designer sollten bei Ihren Kunden niemals versuchen, ein Print-Projekt durch ein Digital-Publishing zu ersetzen. Da es sich beim Digital Publishing meist um eine neue oder erweiterte Zielgruppe handelt, sollten sie eher versuchen, daraus ein erweitertes oder neues Projekt zu generieren.

Interviewpartner

Uwe Steinacker lernte zunächst Schriftsetzer, studierte in Düsseldorf und Wien. Er war als Creative Director in verschiedenen Werbeagenturen und Werbeabteilungen tätig, bevor er seine eigene Agentur gründete. Im letzten Jahr gründete er die TypeSchool mit der er bundesweit Kurse, überwiegend für Typografie und Layout mit Indesign, anbietet.

Annika Lyndgrun ist gelernte Mediengestalterin und studierte Kommunikationsdesign in Düsseldorf und Moskau. Die freiberufliche Kommunikationsdesignerin gestaltete zahlreiche Tablet-Magazine und lehrt Tablet-Publishing an der Hochschule Düsseldorf und in Seminaren der TypeSchool.

 

1 Gesprächsbeitrag

  1. Stephanie |

    Sehr gut, wenn einmal alle Fragen zu dem Thema auf den Punkt gebracht
    und gute Argumente gegenüber Auftraggebern geliefert werden.
     

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