Design ist Aufmerksamkeit

Direkt vor dem Fenster schwappen die Wellen, auf ihnen bewegen sich große Containerschiffe und kleine Ausflugsdampfer: Der Hamburger Hafen ist die bewegte und anregende Kulisse für das Expertengespräch zum Thema „Design ist Aufmerksamkeit“. Es diskutieren: Sabine Reister – Grafikdesignerin und Vorstandsmitglied der AGD, Victoria Ringleb – Geschäftsführerin der AGD, Franziska Walther – Illustratorin und Grafikdesignerin, Vorstand Illustratoren Organisation e.V., Wolfgang Beinert – Grafikdesigner und Typograph.

Moderation und Text: Nicolas Uphaus

Herzlich willkommen, Sie alle haben für unser Gespräch den Weg nach Hamburg gefunden. Ich steige gleich mit einer Frage ein: Sind Designer besonders aufmerksam?

Franziska Walther: Sicher können Designer visuell mehr wahrnehmen als einige andere Disziplinen. Als Gestalterin verstehe ich mich als jemand, der für seine Kunden beobachtet, reflektiert und übersetzt. Ich addiere, subtrahiere, kombiniere, recherchiere und setze neu zusammen. Das ist meine Designleistung.

 Wie aufmerksam sind denn Ihre Kunden in Bezug auf eigenständige Gestaltung?
 FW: Es gibt Kunden, die eine sehr konkrete Vorstellung davon haben, was sie erhalten möchten. Dann kann es schwer sein, sie von zusätzlichen Qualitäten und weiterführenden Lösungen zu überzeugen. Ich persönlich arbeite gerne mit mutigen Auftraggebern zusammen, die sich offen auf neue und auch unkonventionelle Lösungen einlassen.
 Herr Beinert, wie ist es bei Ihnen, haben Sie viele aufmerksame Kunden?
 Wolfgang Beinert: Ausschließlich. Da ich primär im konzeptionellen und strategischen Bereich arbeite, ist das einfach wichtig. Ich bezeichne mich als visuellen Kommunikator. Für Dritte klug zu kommunizieren – das ist der Anspruch, den ich als Kommunikationsdesigner habe. Ich vermittle zwischen denen, die etwas sagen und denen, die etwas verstehen wollen.
FW: Ich glaube, dass wir als Designer zusätzlich zur reinen Informationsvermittlung sehr oft auch Inhalte erarbeiten. Dadurch dass wir auswählen, reduzieren, ergänzen und den Fokus auf bestimmte Dinge setzen, verändern wir auch die Botschaft.
WB: Unsere große Stärke als Designer ist es, kreative Prozesse in Gang zu bringen. Große Unternehmen haben auch Designer in Think-Tanks. Nicht zum Gestalten, sondern zum Analysieren und um neue Gedanken einzubringen.
 Frau Reister, mit welchen Kunden arbeiten Sie gerne zusammen?
 Sabine Reister: Mir ist es sehr wichtig, dass mein Tun eine Sinnhaftigkeit hat. Ich habe am Anfang meiner beruflichen Laufbahn sehr viele Dinge erarbeitet, von denen ich heute sagen würde, sie waren sinnlos. Deswegen ist mir der Kunde wichtig, der seine Kommunikation nach innen und außen gleichermaßen nach seinen Zielen ausrichtet. Der genau wie ich das Ziel hat, dass die Welt ein bisschen besser wird. Der der Welt eine Aufmerksamkeit im Sinne von Achtsamkeit entgegenbringt.
 WB: Ich denke, es gehört auch zu unseren Aufgaben als Gestalter, die Menschen für gutes Design zu sensibilisieren. Und das ist eine permanente Aufgabe, sogar auf ein einziges Unternehmen gesehen. Denn es kommen ja immer wieder Leute nach.
 Ist ästhetische Bildung denn kein gesellschaftliches Wissen, das sich aufbaut?
 FW: Ich habe das Gefühl, in Deutschland ist die ästhetische Bildung, also die Fähigkeit visuelle Dinge zu deuten, relativ unterentwickelt. Ich weiß nicht, woran das liegt, ich kann mir aber vorstellen, dass es mit dem Schulsystem zu tun hat. Es gibt andere europäische Länder, in denen dieses Bewusstsein wesentlich ausgeprägter ist. Es gibt eine höhere Wertschätzung für gut gestaltete Alltagsdinge. Die Milchverpackungen in Schweden oder Finnland etwa sind einfach schöner.
WB: Ich denke, dass ein übergreifendes Bewusstsein dafür in kleineren Ländern einfacher zu erreichen ist.
SR: Das hängt auch mit Vorbildern zusammen. Ich bin aber optimistisch und glaube, dass gerade eine Generation heranwächst, die sich dieses Bewusstsein schafft, auch gefördert durch den globalen Austausch von Bildmaterial und Beispielen, etwa über Pinterest.
Victoria Ringleb: An diesem Punkt muss man die Schule betrachten, denn hier spielt ästhetische Bildung keine Rolle. Das bestimmt unser kulturelles Gedächtnis und unser Wertesystem.
WB: Das kulturelle Gedächtnis ist ein ganz wichtiges Stichwort. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses durch das „Dritte Reich“ einen unendlichen Schaden erlitten hat. Sei es in der Musik, in der Literatur, in der Kunst oder im Design. Unser kulturelles Gedächtnis hat einen Defekt, der weit über Jahrzehnte hinauswirkt. Und was die ästhetische Bildung angeht – und ästhetische Wahrnehmung kann man tatsächlich üben und lernen – sehe ich, auch an den Hochschulen, zu wenig Engagement.
VR: Das geht in den Grundschulen los, in denen eine riesige, als künstlerische Freiheit missverstandene Beliebigkeit herrscht.
FW: Das beginnt bereits mit der räumlichen Umgebung. Wenn ich in einer Stadt das hässlichste Gebäude suche, dann ist es leider häufig eine Schule. Eine schlechte Voraussetzung, um ästhetische Bildung in Gang zu setzen.
VR: Ja, und es ist eine latente, implizite Bildung, die hierdurch stattfindet.
WB: Aber wer will den Leuten denn Geschmack beibringen? Das muss doch letztendlich von einer Profession ausgehen. Früher hat bei uns ja der Werkbund versucht, gute Gestaltung zu lehren. Meine Frage ist: Passt das einfach nicht mehr in die Zeit, oder interessiert es niemanden?
VR: Das ist nicht zuletzt eine Aufgabe von Berufsverbänden. Die haben sich in den letzten Jahrzehnten aber so sehr auf Lobbyarbeit konzentriert, dass dieses Thema hinten runter fiel. Ich denke aber, hier kündigt sich ein Wandel an.
 Wenn wir unseren Blick jetzt noch einmal den Ausdrucksmöglichkeiten zuwenden: Mit welchen Mitteln kann oder sollte Design denn Aufmerksamkeit schaffen?
 SR: Das ist ja eine häufig geführte Diskussion. Die eine Grenze sind für mich diskriminierende Inhalte. Und Aufmerksamkeit ist unangebracht, wenn sie sich der Sinnhaftigkeit entzieht.
VR: Gutes Design schafft Aufmerksamkeit, ohne dass ich mich davon gestört fühle. Es schreit mich nicht an.
WB: Ein sehr optimales Maß an Aufmerksamkeit findet man in guten Hotels. Hier ist alles durchdacht und auf den Gast abgestimmt, ohne dass es nervt.
FW: Besonders findet man das in alten Hotels, die noch einen Concierge haben, der auch als solcher agiert. Das ist ein sehr leiser Job, das ist kein lautes Anbieten.
 Aufmerksam zu sein, ist ja auch immer eine Filterleistung. Wie kann der Designer den Betrachter dabei unterstützen?
 WB: Als Typograph kann ich beim Setzen eines Buches für den Leser eine Menge tun. Der Student wird sich vielleicht wundern, warum er mit dem einen Buch viel besser lernen kann, als mit dem anderen. Die Lösung liegt in der Gestaltung. Ich beobachte, dass Romane heute meist zu eng gesetzt werden, der erhöhte Grauwert erschwert das Lesen. Soll hier Papier gespart werden, oder liegt es am mangelnden oder verlorengegangenen Wissen?
FW: Leider verkaufen sich Bücher meist nicht wegen der guten Gestaltung, sondern aufgrund der Bewerbung durch den Verlag oder den Buchhandel. Es kommt darauf an, wo das Buch im Laden steht, ob es zusätzliche Merchandising-Produkte gibt, ob der Buchhändler vom Verlag noch einmal auf das Buch hingewiesen wird und so weiter.
VR: Diese These würde für den Erfolg der Reizüberflutung sprechen. Je mehr Kaufanreize ich setze, desto höher sind die Absatzzahlen. Ich denke aber, hier muss man differenzieren. Das trifft sicher besonders für Bestseller und Mainstreambücher zu.
FW: Es kommen jährlich so massenhaft viele Bücher auf den Markt, dass der Leser unmöglich selbständig auswählen kann. Er ist hier angewiesen auf eine Vorauswahl, eine Besprechung, einen Hinweis, der Orientierung schafft.
 Braucht gutes Design mehr Aufmerksamkeit?
 FW: In Bezug auf Bücher und Buchgestaltung: Ja. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Gestaltung hier eine höhere Wertschätzung erfährt. Und ganz allgemein gesagt: Gute Gestaltung, gutes Design schafft Mehrwert und macht unser Leben leichter. Bücher lesen sich mit guter Typogafie schneller, gutes Grafikdesign selektiert, präzisiert und pointiert Informationen, gute Leitsysteme lassen uns Wege leichter finden. Und neben all der Effizienz und Funktion hat gute Gestaltung natürlich auch einen emotionalen Wert, berührt uns, erzählt Geschichten, vermittelt Attitude und schafft Authentizität. Diese Qualitäten verdienen Aufmerksamkeit.
WB: Ich glaube, dass die Profession des Designers erst am Anfang steht. Designer werden unsere Zukunft gestalten, von der Nahrung bis zu den Städten. Auch Politikern wird immer mehr bewusst, dass Gestalten nichts mit Deko zu tun hat. Ich glaube, die Epoche des Designs beginnt erst. Weder bei Kunden noch bei Freunden habe ich dazu je einen Widerspruch gehört.
 Ich bedanke mich für Ihre Zeit und das Gespräch.

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