Thema| Design und Grenzen

Die Welt ist im Wandel. Einerseits ein Zitat aus „Herr der Ringe“, andererseits die perfekte Einleitung in das Thema „Grenzen“. Jeden Tag begegnen wir neuen Veränderungen. Grenzen werden verschoben, eingerissen, dann neugezogen und wieder verworfen. Gerade jetzt wo täglich zahlreiche flüchtende Menschen Europas teils nicht sichtbare, aber dennoch existente Grenzen überschreiten, scheint dieses Thema gegenwärtiger denn je. Vor ein paar Jahren gingen Menschen auf die Straße, um gegen eine gezogene Grenze zu protestieren und ihre Vernichtung zu verlangen und heute verhält es sich genau umgekehrt. Doch uns interessieren natürlich nicht nur die räumlichen Grenzen. Inwiefern sie im Design zu akzeptieren, zu ziehen oder zu überschreiten sind; welche davon hinderlich, welche wichtig und welche gar unumgänglich sind, das gilt es in dieser Tagung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Zum vierzigsten Jubiläum möchten wir gemeinsam über Grenzen diskutieren. Hierzu haben wir den Referenten und Beteiligten der diesjährigen Tagung drei Fragen zum Thema gestellt:

  • Welche Rolle spielen Grenzen in deinem Leben?
  • Welche Grenzen sind gute, wichtige Grenzen, welche Grenzen sind schlechte Grenzen?
  • Welche Grenze ist die wichtigste, die du dir selbst einmal gesetzt hast?

Welche Rolle spielen Grenzen in Deinem Leben?

Christhard Landgraf: Mit Grenzen habe ich als Mensch und Gestalter leben gelernt.
Victoria Ringleb: Nachdem ich viel zu lange immer wieder an sie gestoßen, vor selbige gerannt bin, habe ich ihre Wichtigkeit als Orientierungspunkte erkannt und setze sie nun bewusst selbst.
Andreas Maxbauer: Und schon sind wir bei der Grundfrage aller Grenzen: „Freiheit oder Sicherheit“? Ich habe nur ein geringes Sicherheitsbedürfnis und sehe mich als freien und weitgehend unabhängigen Menschen. Insofern spielen zumindest die von Dritten gezogenen Grenzen eine nur geringe Rolle für mich. Grenzen, die ich mir selbst durch mein Denken und Fühlen oder im Umgang mit Anderen setze, sind für mich wirksamer und bindend.
Jörg Jelden: Grenzen sind für mich extrem wichtig. Denn ohne Grenzen gibt es für mich keine Selbstbestimmung und keinen Selbstwert. Nur wenn ich für mich Grenze setze und Nein sage, kann ich bestimmen, was ich selbst möchte, und eigenbestimmt handeln. Ansonsten gehe ich in der Flut an Möglichkeiten unter und bin Spielball anderer. Aber natürlich lebe ich nicht allein auf der Welt und muss auch die Grenzen der anderen akzeptieren und mich mit deren Gestaltungsabsichten arrangieren. Wer seinen eigenen Wert steigern will, sollte seine Grenzen klarer definieren und setzen.
Annika Lyndgrun: Während meiner Ausbildung in einem Großunternehmen habe ich erfahren wie sprichwörtlich begrenzt der Gestaltungsspielraum des Einzelnen sein kann, obwohl das Unternehmen von seinen Ideen profitieren würde. Außerdem wird die Sicherheit einer Festanstellung in meinen Augen oft mit einem hohen persönlichen Preis bezahlt: Der eigenen Souveränität. Fragen nach dem Sinn der eigenen Arbeit werden bestenfalls müde belächelt. Keine Frage – unsere Arbeitswelt ist da gerade im Wandel und Grenzen wie klassische Hierarchien werden langsam aufgebrochen. Aber noch steckt uns die preußischen Arbeitsmoral, die sich über Grenzen definiert, tief im Mark. Deswegen zog mich das Designstudium instinktiv an, weil ich glaubte dort Leute zu treffen, die auch eine andere Arbeits-, Lebens- und Denkwelt wollen. Während des Designstudiums genoss ich die unendliche Denkfreiheit, die meinem bisherigen beruflichen Umfeld eher lästig war. Aber spätestens als ich mich selbstständig machte, dämmerte mir, dass ich mit diesem Beruf auch eine andere Grenze einreiße: Die zwischen Privat- und Berufsleben. Der Designberuf ist für mich kein dicker Mantel, den ich bei Bedarf an- und ausziehen kann, sondern dieser Beruf wurde meine zweite Haut: Eine dünne Membran als Grenze zwischen Innen- und Außenwelt. Ständig ist der Kopf mit etwas beschäftigt, sei es ein schief angekleistertes, aber irgendwie interessantes Poster an einer Litfaßsäule, an dem man zufällig vorbeigelaufen ist oder eine aktuelle Angebotsverhandlung. Auch in Gesprächen mit Freunden bin ich ständig im „Problemlösungsmodus“, was nicht immer passend sein muss. Wenn klassische Grenzen wegfallen, muss ich mir eigene setzen.
Uwe Steinacker: Grenzen dienen mir dazu, sie zu überwinden um Neues entdecken und aufbauen zu können.
Julián Mandrión Soria: Mitte 1989 war ich auf Klassenfahrt im Harz – inklusive Führung an der damaligen deutsch-deutschen Grenze. Ein Grenzbeamter erzählte uns von seinem Alltag, dass er die ostdeutschen Kollegen zwar schon seit Jahren aus der Entfernung kenne, aber noch nie ein Wort mit Ihnen gewechselt hätte. Wie traurig es sei, dass sich das nie ändern werde… Wir wissen alle: kurz darauf war diese Grenze Geschichte.
Für mich hat das die Rolle von Grenzen relativiert. Wenn eine solche Grenze fallen kann, was sind da schon die Grenzen eines Corporate Designs?
Marco W. Linke: Grenzen spielen in meinem Leben kaum eine Rolle – außer ich setze sie mir selbst. Nur wenn ich den Schritt über die Grenze wage, kann ich Chancen und Herausforderungen einschätzen und abwägen.
Raphael Reimann: Grenzen sind etwas, was uns hilfst unsere Leben und Umgebung zu begreifen und zerrütten.
Daniela Kanka: Grenzen sind wie Puzzlestücke. Zusammengefügt ergeben sie eine Ordnung, ein Bild. Ohne Grenzen hätten wir nur ein konfuses Mosaik.
Simon Kesting: ‚Design für Alle‘ ist ein kreativer Kampf gegen Grenzen oder Barrieren in Produkten, Gebäuden und Köpfen. Gewinnen kann man ihn nur durch grenzenlose Inspiration, durch den berühmten „Blick über den Tellerrand“.
Dagmar Lautsch-Wunderlich: Auf dem Weg zu Design für Alle stößt man immer wieder an Grenzen, angefangen von der Akzeptanz in Forschung, Entwicklung, Ausbildung und Lehre bis hin zur Umsetzung. „Geht nicht“, „zu teuer“, „nur für Behinderte“ … Daher wünsche mir, diese Grenzen in den Köpfen zu überwinden, mehr Mut zum neuen Denken, mehr Netzwerk und vor allem gutes Design!
Marianne Lotz:  Das Wort „Grenze“ empfinde ich zunächst als negativ, weil ich es mit Einschränkung verbinde, aber ich mag durchaus Grenzen, die ich selbst nach meinem Bedarf öffnen und schließen kann.
Reinhard Kleist: In dem Medium, in dem ich arbeite, gibt es glücklicherweise keine Grenzen. Alles ist darstellbar. Ein leerer Raum, eine Horde Orks, ein Bahnhofsvorplatz in Mecklenburg Vorpommern oder eine Weltraumschlacht: Alles ist möglich mit einem Stift und einem Stück Papier.

Welche Grenzen sind gute, wichtige Grenzen, welche Grenzen sind schlechte Grenzen?

Christhard Landgraf: Grenzen im Kopf sind die übelsten, fallen diese, kann man alles diskutieren.
Victoria Ringleb: Gute, wichtige Grenzen sind die, die Orientierung bieten, die Sicherheit über das Innen und Außen, das Richtige, das Falsche, das Gewollte, das Ungewollte geben. Schlechte Grenzen engen Handlungsspielräume unzulässig ein.
Andreas Maxbauer: Grenzen, die Menschen vor Willkür und Übergriffen, die ihre Freiheit schützen, sind gut. Schlecht sind alle Grenzen, die Menschen gängeln und bedrängen, die sie von ihrer freien Meinungsbildung und -äußerung abhalten sollen. Werden sie mir gesetzt und lassen sich nicht überwinden, verlasse ich umgehend das Einflussgebiet des Grenzziehers.
Jörg Jelden: Für mich sind gute Grenzen in Bewegung, temporär durchlässig und verhandelbar. Gute Grenzen haben eine gute Balance aus dem, was rein und rausgeht. Sie sind wie ein gut funktionierender Filter. Schlechte Grenzen verhindern jeden Austausch und führen letztlich zu totaler Selbstrefenzierung und Erstarrung.
Annika Lyndgrun: Ich fand die Erfahrung sehr wichtig an die eigene Leistungsgrenze zu kommen und mit Menschen zusammen zu arbeiten, die irgendwie „grenzwertig“ sind: zu laut, zu narzisstisch oder auch zu „blutleer“. Ich glaube nicht, dass ich viel gelernt hätte, wenn ich hier innerhalb meiner persönlichen Grenzen geblieben wäre. Vorübergehende Überforderung ist deshalb für mich eine „gute“ Grenze, bei der es sich lohnt sie zu überwinden. Große Probleme habe ich mit Grenzen, die eine Art fundamentalistische Basis haben und sich deshalb nicht mit dem Verstand erklären lassen, z.B. „Mädchen können kein Mathe“. Noch erdrückender ist es für alle, denen wegen ihrer Herkunft oder Religion unüberwindbare Hürden gesetzt werden. Den Flüchtlingen hat einfach das Leben selbst Grenzen gesetzt: Sie wurden meist in einem Land geboren, in dem das Thema der persönlichen Freiheit ein Luxus-Diskurs ist, weil man täglich mit dem nackten Überleben beschäftigt ist. Auch die Grenzen, mit denen Europa sie gerade konfrontiert, setzt diese Ungerechtigkeit der „unglücklichen Geburt“ fort. Eine wirklich gute Lösung wird es hier vermutlich nicht geben. Das Konzept der Gerechtigkeit stößt hier leider an seine Grenzen.
Uwe Steinacker: Gute Grenzen sind beispielsweise für mich die eigenen Körpersignale, auf die man hören sollte um Schaden an sich selbst und seinen Mitmenschen abzuwenden; schlechte Grenzen sind solche die man anderen setzt um ihre Ideen, Fantasien, Visionen und ihren Glauben an etwas zu unterdrücken.
Julián Mandrión Soria: Dort, wo die Freiheit anderer anfängt, hört die eigene auf. Diese Grenze reicht eigentlich aus, um gut miteinander klarzukommen.
Marco W. Linke: Eine notwendige Grenze setze ich dann, wenn mir ein Vorhaben schaden könnte: beruflich oder privat.
Raphael Reimann: Gute: Grenzen, die das zusammenleben vereinfachen. Schlechte: Grenzen, die das zusammenleben erschweren.
Daniela Kanka: Gute, wichtige Grenzen sind jene, die mir helfen an mir zu wachsen und ein „Ich“ zu entwickeln. Sie verschaffen mir neue Herausforderungen im Leben. Schlechte Grenzen sind diese, die mich ausbremsen und mich in meiner „Comfort-Zone“ gefangen halten.
Simon Kesting: Gute Grenzen wie Normen und Gesetze umrahmen das kreative „Spielfeld“, bisweilen zwingen sie Unternehmen auch, eine kreative Auseinandersetzung mit Barrierefreiheit und ‚Design für Alle‘ anzustoßen. Schlechte Grenzen sind dabei notorische Bedenkenträger, eingefahrene Prozesse und ein falsches Bild vom „normalen“ Kunden.
Dagmar Lautsch-Wunderlich: Freiheit in Grenzen – Gute Grenzen können schützen, das Leben erleichtern, Sicherheit und Orientierung geben, sie bewahren vor Beliebigkeit und signalisieren Inklusion, schlechte Grenzen engen ein, behindern die freie Entfaltungsmöglichkeit und signalisieren Exklusion.
Marianne Lotz: Gute Grenzen sind die zum Selbstschutz, wenn beispielsweise der Kunde am Honorar drücken will und man seine Preisgrenze verteidigt, während schlechte Grenzen die sind, die uns in unserer Entwicklung hindern und oftmals im eigenen Kopf mit Formulierungen wie „Ich kann nicht, ich darf nicht, so was tut man nicht“ vorzufinden sind, z.B.: „Ich darf für diesen Job doch nicht so viel Geld verlangen“ oder „Ich kann doch nicht einfach anrufen, um neue Kunden zu gewinnen.“
Reinhard Kleist: Gute: Grenzen die schützen, sich selbst oder andere. Schlechte: Die mich oder andere einengen.

Welche Grenze ist die wichtigste, die Du Dir selbst einmal gesetzt hast?

Christhard Landgraf: Die moralische Grenze nie zu überschreiten.
Victoria Ringleb: Die Grenze, die es mir erlaubt, mich nicht für alles verantwortlich fühlen zu müssen.
Andreas Maxbauer: Ich kann mich nicht erinnern, mir bisher Grenzen gesetzt zu haben. Ich setze mir lieber Ziele.
Jörg Jelden: Meine wichtigste Grenze aktuell ist die 30h Woche. Das heißt, um 18.00h zuhause zu sein und mit meiner Familie Abendbrot zu essen, meinen Sohn an zwei Nachmittagen in der Woche um 15h aus der Kita abzuholen und trotzdem gute, anspruchsvolle und profitable Aufträge zu bekommen, insbesondere Strategie-, Innovations- oder Organisationsentwicklungsprozesse zu moderieren. Das erfordert an vielen Stellen Nein zu sagen.
Annika Lyndgrun: Nach einigen aufreibenden Erlebnissen während der Anfänge meiner Freiberuflichkeit sage ich heute sehr viel schneller –freundlich– „Stop“ und „Nein“. Anwendungsgebiete: Kostenlose Dienstleistungen (außer vielleicht für Verwandte ersten Grades), Schmalbudgetierung und Urlaubsaufweichung. Als Ein-Frau-Unternehmen bin ich ja praktisch mein bestes Pferd im Stall und dass sollte gehegt und gepflegt werden um auf der Rennbahn Vollgas geben können.
Uwe Steinacker: Meine wichtigste Grenze ist, mich vor Gier zu schützen um nicht auf Kosten anderer zu leben.
Julián Mandrión Soria: Man sollte sich Ziele setzen. Die eigenen Grenzen zeigen sich einem ganz von selbst.
Marco W. Linke: Die wichtigste Grenze war die Reduzierung meiner Arbeitszeit, um mehr Zeit für meine Familie zu haben. Mit dem Vorsatz „Mehr Geld für weniger Arbeit“ halbierte ich meine Arbeitszeit – bei besserem Einkommen: ein unbezahlbares Maß an Lebensqualität.
Raphael Reimann: Noch 5 Minuten, Mutti!
Daniela Kanka: Ich würde hier eher von Etappen oder Zielen im Leben sprechen. Die setzte ich mir regelmäßig. Sie schaffen Orientierung, Erfolgserlebnisse und Motivation für weitere Ziele in meinem Leben.
Simon Kesting: Die Entscheidung, weniger zu arbeiten, um meinen kleinen Sohn zu betreuen.  Im Alltag mit Buggy und Wickeltasche stoßen wir ständig auf neue Grenzen durch schlechtes Design und ich denke oft: „Das muss doch besser gehen!“
Dagmar Lautsch-Wunderlich: Jeder Mensch hat seine eigene persönliche Grenze (Schmerzgrenze). Wichtig ist, diese zu erkennen, zu akzeptieren und ggf. auch zu verteidigen. Andererseits darf man sich selbst nicht zu enge Grenzen setzen, um sich nicht im Wege zu stehen.
Marianne Lotz: Anstatt mich mit Grenzen zu beschäftigen, frage ich mich lieber: „Was geht? Was ist machbar? Wie geht’s? Wie komme ich weiter?“
Reinhard Kleist: Nicht mehr zu allem JA zu sagen.
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