Fiction schließt die Lücke

Autorin Christina Sahr in der virtuellen Realität

Auf dem Grundstück Invalidenstraße 86 in Berlins Mitte war lange Zeit: nichts. Genau gegenüber dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und nur ein paar Meter entfernt vom Hauptbahnhof: eine Lücke. Eine Lücke, die das Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft gesucht und gefunden hat, um sie mit Ideen zur Zukunft zu füllen.
Auf dem Grundstück, das der Charité gehört und von dieser kostenlos zur Verfügung gestellt wird, entstand ein kleiner, wohldurchdachter Containerbau mit Café und einem Garten: das Fiction Forum. Doch wenn wir hineingehen, stellen wir fest: Was die Zukunft positiv beeinflussen kann, ist oft gar nicht mehr so fiktional, sondern lässt sich schon heute ansehen, anfassen, anziehen.

Batmans Bike, Hieronymus Bosch und Schlauchboote, die zu Rucksäcken werden

Gleich im Eingangsbereich zur Linken begrüßt uns ein Objekt, das aussieht wie ein Batmobil. Wer die Vorträge vor der AGD-Mitgliederversammlung in Hamburg gesehen hat, erkennt es sofort wieder. Es ist das E-Motorrad Nera von dem Berliner Unternehmen BigRep. Das Bike besteht aus 15 Teilen und stammt komplett aus dem 3D-Drucker. Was Ingenieure und Designer geschaffen haben, bedeutet für die Zukunft des Motorradfahrens: verringerte Kosten, verringerte Produktionszeiten, günstigere Motorräder, günstigere Reparaturen. Und Ressourcen schont es auch.

Dem Nera gegenüber füllt ein Gemälde die ganze Wand. Der »Garten der Lüste« von Hieronymus Bosch. Davor auf einem Tisch: eine VR-Brille und die passenden Handschuhe dazu. Mit Hilfe dieser Utensilien können wir in dem Gemälde – oder einer Welt, die ihm sehr ähnlich ist – spazieren gehen und vom Baum einen Apfel pflücken. Vielleicht der Apfel der Erkenntnis? Das Team von TimeleapVR will historische Kunstwerke zum Leben erwecken, die Menschen spüren lassen, dass diese Bilder Geschichten erzählen. das Ziel:

So werden geschichtliche Zusammenhänge über die Jahrhunderte greifbar und gewinnen damit an ganz neuer Relevanz.*

Und bei den Menschen, die die VR-Brille tragen, öffnet sich der Mund erstaunt oder verzieht sich zu einem Lächeln.

Upcycling ist nicht nur ökologisch, es kann auch gesellschaftspolitisch sein. Darauf weist uns eine Europaflagge hin; aus einer Plane gefertigt hängt sie in der Mitte des Raums. Hergestellt wurde sie von mimycri, einem gemeinnützigen Verein aus Berlin, der in seinem Shop Taschen und Rucksäcke anbietet. »Durch enge Zusammenarbeit in einem diversen Team aus Menschen mit Fluchterfahrungen und Berlinern, wird Geschichte greifbar gemacht und in ein wunderschönes Produkt verwandelt. Wir upcyclen kaputte Flüchtlingsschlauchboote zu hochwertigen Taschen.«**

Nachhaltigkeit und Nachdenklichkeit

Im Eingang zum nächsten Raum fallen zwei Paar Sneaker durch die ungewöhnlichen Materialien auf, aus denen sie bestehen. Holzfasern? Stroh? Was noch? Lassen wir den Schöpfer der Schuhe zu Wort kommen:

nat-2™ ist seit seiner Einführung im Jahr 2007 der Pionier für nachhaltige, umweltfreundliche Luxusschuhe.
Für nat-2™ ist der Grund für den Einsatz vieler nachhaltiger und umweltfreundlicher Materialien und Techniken nicht nur der ökologische Aspekt, sondern auch die Frage, was wir unter ›gutem Design‹ verstehen. Mit solchen innovativen Produkten und Dingen erreichen wir auch neue Ästhetiken und Haptiken, die es in der Mode-, Schuh- und Accessoiresbranche noch nie gegeben hat.
Neue Aspekte, Umdenken und ständige Innovation in die Köpfe und Häuser der Menschen bringen, haben Teile des Teams, insbesondere Matthias Thies und Ulrike Kotjan, bereits 1994 unter der Marke ›klare – ökologische Schuhe‹ die ersten 100% kompostierbaren, TÜV-geprüften und bewährten Schuhe der Welt auf den Markt gebracht. nat-2™ verwendet hochinnovative natürliche Ressourcen wie echtes zertifiziertes nachhaltiges Holz, echter Stein, echter Heuhaufen, echter Naturkautschuk, vegetabil gegerbtes Leder, echtes Gras für seine Produkte sowie Recyclingmaterialien wie echtes Mais, Kaffeesatz, Bohnen und Pflanzen, Milch, PET-Flaschen, Glas, Weinkorken, Lederreste, Öko-Baumwolle, Ananasstreifenfasern, etc.**

Die Familie von Sebastian Thies stellt seit 1856 Schuhe her – heute in der 6. Generation. Die vielleicht modernste Schuhproduktion Europas ist zugleich eine ihrer ältesten.

Essen geht immer

Im hinteren Teil des Raumes dreht sich alles ums Kochen und Essen. Im Mittelpunkt steht die Cookin‘ Roll, eine mobile Küche auf Rädern, die man kaufen oder mieten kann. Ausgeklappt ist die Küche ein Esstisch für bis zu 18 Personen. Links in der Küche sehen wir, was zukünftig unsere Lebensmittel bei Lagerung und Transport schützen kann: Arekapak. Das Material wird aus den abgefallenen Blättern der Arekapalme hergestellt. Energiearm, ohne Zusätze und fair. Es ist vollständig kompostierbar – und schöner als Plastik ist es auch.

Im Mittelpunkt der Küche: das gute Ding. Als Sturm Ela 2014 in Düsseldorf rund 40.000 Bäume entwurzelte, entstand die Idee. Das Sturmholz von 35 Bäumen wird zu Brettchen verarbeitet, in jedes Sturmbrettchen ist Art, Alter und GPS-Standort des gefallenen Baumes graviert. Von einem Teil des Erlöses werden neue Bäume gepflanzt. Auf der Website von »Das Gute Ding« finden sich sehr unterschiedliche zukunftsweisende Projekte und das Team sagt über sich:

Das Gute DingUG ist eine interdisziplinäre Plattform. 2014 gegründet, verbinden wir Gestaltung in den Bereichen Kommunikation, Produkt und Raum miteinander. Die Plattform ist offen für Kreative und Impulsgeber gleicher oder anderer Disziplinen – dies kann projektbezogen geschehen oder dauerhaft. Unser Ziel ist es, mit den Mitteln der Gestaltung das Leben interessanter, verständlicher, kommunikativer und funktionaler zu machen.**

Feinstaub bleibt meist unsichtbar. Iris de Kievith und Annemarie Piscaer haben sich entschlossen, das zu ändern. Anstatt in den Lungen, landet der Feinstaub auf Tellern und Bechern; er wird eingearbeitet in die Glasur. Die Farben zeigen an, wie viel Feinstaub Menschen eingeatmet haben, die in Städten wie Rotterdam leben – im Alter von 25, 45, 65 und 85 Jahren.

Wachstumsgedanken, die zur Zukunft passen

Das spektakulärste Gewächs im Garten des Fiction Forum ist unzweifelhaft der GENESIS Eco Screen. Das Grünpflanze- und Insektenhabitat ist komplett 3D-gedruckt – und zwar aus alten PET-Flaschen. Es ist weltweit das erste seiner Art. Ansonsten fällt auf, welche gro0e Menge Grün auf dem begrenzten Raum Platz findet. Und dass ein Garten, in dem die meisten Pflanzen essbar sind oder Essbares tragen, durchaus auch ein schöner Garten ist.

Die Erkenntnis: Design ist zentral

»Etwas, was nur in der Vorstellung existiert; etwas Vorgestelltes, Erdachtes« Das, sagt der Duden, ist eine Fiktion. Mit der Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, fängt es an. Im Fiction Forum sehen wir, wie aus Fiktion Realität wird. Was stets auch dazugehört, sind Fachwissen, ein konkreter Plan – und Design. Bei allen Projekten spielt Design eine zentrale Rolle, sind Sinn, Realisierbarkeit und Design untrennbar miteinander verbunden. Viele Teams arbeiten interdisziplinär: Designer aus verschiedenen Sparten, Designer mit Architekten, mit Ingenieuren, mit Menschen aus anderen Kulturen, die über anderes Basiswissen und andere Erfahrungen verfügen. Die Zukunft des Designs liegt auch darin, sich zu öffnen.
Fiction Forum
Invalidenstraße 86
10115 Berlin
Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr
Noch bis zum 31. Oktober

* von der Ausstellungstafel
** von der Website

Verfasserin: Christina Sahr
Fotos: Christhard »Otto« Landgraf

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